Politikberatungsunfalluntersuchung

erschienen in der NZZ am 01.06.2021

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Bevölkerung leidet in der aktuellen Pandemie- und Klimadebatte.  Warum akademische Unfallforschung den Weg aus der Vertrauenskrise weisen könnte.

André D. Thess

01. Juni 2021

 

Die Luftfahrt verdankt ihre phänomenale Sicherheitsbilanz unabhängigen Inspektoren in der „Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung“ oder der „Schweizerischen Sicherheits­untersuchungsstelle“. Pilotenfehler und Konstruktions­­­mängel werden schonungslos aufgedeckt. Eine Handvoll kritischer Unfall­berichte bringt mehr Sicherheits­gewinn als Millionen unfallfreier Flüge.

Im Wissenschaftssystem verlaufen „Unfallforschung“ und Fehlerkorrektur meist so zuverlässig wie in der Luftfahrt. Doch sobald Forscher ihr Terrain verlassen und sich wissenschaftlicher Politikberatung zuwenden, verflüchtigt sich die Fehlerkultur. Mängel in der Politikberatung können dramatische Auswirkungen haben, bleiben jedoch meistens im Dunkeln. Ist dies der Grund für Vertrauensverlust zwischen Wissenschaft und Bevölkerung? Brauchen wir eine „Bundes­stelle für Politikberatungs­unfalluntersuchung“?

In der Debatte um Pandemiepolitik und Klimaschutz werfen manche Bürger Wissenschaftlern vor, sich politisch vereinnahmen zu lassen. Einige Forscher bezeichnen ihrerseits zweifelnde Bürger als „Coronaleugner“ oder „Klimaleugner“. Statt Kampfbegriffe zu benutzen, tut die Wissenschaft gut daran, selbstkritisch zurückzublicken und aus Politikberatungsfehlern zu lernen. Zwei Exempel erscheinen dafür besonders geeignet – der Club-of-Rome-Report „Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972 und der Bericht „Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft“ der Ethikkommission Sichere Energieversorgung aus dem Jahr 2011.  

„Grenzen des Wachstums“ wird gern in den Rang einer Heiligen Schrift erhoben. Dabei fördert eine nüchterne Analyse des 205-Seiten-Buches ein differenzierteres Bild zutage. Im Buch „Sieben Energiewendemärchen?“ wurde das Werk anhand der Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis durchleuchtet – das wissenschaftliche Analogon zum Reinheits­gebot beim Bierbrauen. Die Leitlinien gebieten die Anwendung zeitgemäßer Methoden, das Anzweifeln eigener Ergebnisse, die Bestätigung durch unabhängige Forscher­ sowie die Veröffentlichung in Fachzeitschriften vor der Einberufung von Pressekonferenzen.

Die Autoren stellten die Hypothese auf, ungebremstes Wachstum von Bevölkerung und Industrie­produktion hätte in den bevorstehenden Jahren dramatische Unterernährung und Umwelt­verschmutzung zur Folge. Computer­simulationen mit fünf Variablen schienen dies zu bestätigen.  Die Forscher leiteten daraus die Empfehlung ab, durch weltweite strikte Geburten­kontrolle und einen erzwungenen Stopp des industriellen Wachstums ein „globales Gleichgewicht“ zu erreichen.  Nur eine schnelle weltweit koordinierte Aktion könne die mutmaßlich dramatische Entwicklung verhindern.  

Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Forscher zwar einen mutigen Schritt in methodisches Neuland gewagt hatten. Jedoch übersahen sie Softwarefehler, verzichteten auf begutachtete Fach­veröffentlichungen und zelebrierten stattdessen am 2. März 1972 eine medien­wirksame Presse­konferenz. Wäre die Menschheit dem Club-of-Rome gefolgt, würden hunderte Millionen Chinesen und Inder darben, anstatt dank Globalisierung der Armut entkommen zu sein. Deshalb kann das Papier einerseits als originelles Werk gelten, verkörpert jedoch andererseits eine Fehlleistung wissenschaftlicher Politikberatung. Nur wenn die Wissenschaft dies selbstkritisch eingesteht, kann sie öffentliches Vertrauen gewinnen.

Ein zweites denkwürdiges Dokument ist der Bericht der Ethikkommission Sichere Energieversorgung vom 30. Mai 2011. Auf dessen Basis beschloss der Deutsche Bundestag am 30. Juni 2011 den Atomausstieg. Im Lichte jüngster Diskussionen über das Klimaurteil des Bundes­verfassungsgerichts und über Kernenergie als Klimaschutzwerkzeug kommt diesem Papier hohe Aktualität zu. In einem offenen Brief (Zum Artikel) wird die Frage erörtert, ob die acht Professoren der 17-köpfigen Kommission unter Leitung des damaligen DFG-Präsidenten Matthias Kleiner guter wissenschaftlicher Praxis sowie den Leitlinien professioneller Politikberatung folgten und ihre wissen­schaftliche Unabhängigkeit wahrten.

Die Untersuchung des 115-Seiten-Berichts fragt konkret, ob das Kollegium hinreichend interdisziplinär war, ob eine Abwägung zwischen dem Risiko eines schnelleren Klimawandels ohne Kernenergie und dem eines langsameren Klimawandels mit Kernenergie erfolgte, ob Erkenntnisse von Empfehlungen getrennt waren und wie der internationale Forschungsstand zur Ethik der Kernenergienutzung gewürdigt wurde. Die Betrachtung erstreckt sich nicht auf die Frage, ob der Atomausstieg „richtig“ oder „falsch“ war.

Die Analyse zeigt das Fehlen einer ergebnisoffenen Aufgabe und den Verzicht auf eine fachgerechte Risikoanalyse als Hauptmängel der Arbeit des Kollegiums auf. Sie mündet in der Erkenntnis, dass die Professoren dem Leitbild unabhängiger Wissenschaft nicht gerecht geworden sind.

Der Blick in die Fehler der Jahre 1972 und 2011 lehrt, dass wir kein Bundesamt für Politik­beratungs­unfalluntersuchung brauchen, wohl aber unabhängige Wissenschaftler!

 

André D. Thess

Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart

und  Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“

 

Der Beitrag ist in leicht mofidizierter Form am 1. Juni 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen

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