Energiewendemärchen der Woche 02-2022

Die Erdbeerformel

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Die Erdbeerformel

André D. Thess

13. Januar 2022

Die Behauptung: In einem Magazinbeitrag, der auf Twitter breite Diskussionen ausgelöst hat, wird unter der Überschrift „Kernkraft rechnet sich nicht!“ behauptet, für 19 Milliarden Euro könne man entweder ein Kernkraftwerk mit 1,6 Gigawatt oder 400 Millionen Solarmodule mit 105 Gigawatt kaufen.

Meine Analyse: Die zitierte Grafik erweckt den Eindruck, beide Optionen seien gleichwertig. In Wirklichkeit werden hier Äpfel mit Birnen verglichen – oder genauer gesagt gefrostete mit frischen Erdbeeren. Verweilen wir zunächst einen Moment in der Erdbeerwelt.

Die Vollversorgung mit Erdbeeren ist für eine Industrienation wie Deutschland zum Glück weniger existenziell als die grundlastfähige Versorgung mit CO2-neutralem Strom. Trotzdem kann man an dem unpolitischen Beispiel einiges lernen. Bei einem Supermarktbesuch im Frühsommer 2017 dokumentierte ich, dass gefrorene („grundlastfähige“) Erdbeeren 4,64 €/kg und frische („saisonale“) Erdbeeren 2,38 €/kg kosten. Wie ist diese Differenz zu erklären? Benötigt man grundlastfähige Erdbeeren an 8760 Stunden im Jahr, muss man im Sommer saisonale Erdbeeren billig einkaufen und durch Reinigung, Trocknung, Tiefkühlung und Verpackung grundlastfähig machen. Die Zusatzkosten nenne ich „Speicherkosten“. Dieser Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Erdbeerpreis-Grundlast = Erdbeerpreis-Saisonal + Speicherkosten

Die Speicherkosten sind der Preis, den man für eine Vollversorgung bezahlen muss – im vorliegenden Fall 2,26 €/kg. Wir lernen an diesem Beispiel, dass es keine Vollversorgung zum Nulltarif gibt.

Kernkraftwerke liefern grundlastfähigen CO2-neutralen Strom. Solarmodule liefern tagsüber CO2-neutralen Strom. Nachts liefern sie keinen Strom. Um fluktuierenden Solarstrom in grundlastfähigen Solarstrom zu überführen, muss dieser gespeichert werden – in konventionellen Batterien oder in Carnot-Batterien. Diesen Umstand können wir nun in Analogie zum Einführungsbeispiel in der folgenden „Erdbeerformel“ zusammenfassen:

Strompreis-Grundlast = Strompreis-fluktuierend + Speicherkosten

Die Formel gilt gleichermaßen für Solar- und Windstrom. Die Speicherkosten lassen sich im einfachsten Fall aus der Formel I/N berechnen, wobei I die Investitionskosten in € pro kWh und N die Zyklenzahl bezeichnet. Auf der englischen Wikipedia-Seite Powerwall können wir erfahren, dass die Tesla-Powerwall 1 pro gespeicherter Kilowattstunde knapp 500 € kostet und 5000 Zyklen überlebt. Daraus folgen Speicherkosten von etwa 10 Cent pro kWh pro Ladezyklus. Es ist dem Leser überlassen, auf der Basis dieser oder anderer Zahlen zu berechnen, wieviel grundlastfähigen Solarstrom man für die zitierten 19 Milliarden erhält

Mein Fazit: Der weit verbreitete direkte Vergleich der Kosten von grundlastfähiger Kernenergie mit fluktuierender Solarenergie ohne Berücksichtigung von Speicherkosten ist ein Paradebeispiel für Energiewendemärchen. Jeder Bürger, dem die Wissenschaft am Herzen liegt, sollte nach dem Motto „Null-Toleranz gegenüber Pseudowissenschaft“ solche Taschenspielertricks mit Verweis auf die Erdbeerformel zurückweisen.


Der Autor: André D. Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“ Kontakt: energiewendemaerchen@t-online.de

 

 

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