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Netzverstopfung
André D. Thess
10. Februar 2022
Die Behauptung: Die Akademie der Technikwissenschaften acatech schreibt in ihrem Dokument Welche Bedeutung hat die Kernenergie für die künftige Weltstromversorgung?: „Werden KKWs weiter in Grundlast betrieben, passen sie schlecht zur schwankenden Einspeisung aus Windkraft und Photovoltaik-Anlagen.“ In den Medien ist oft die These zu hören, Atomkraft würde „die Netze verstopfen“.
Meine Analyse: Die Einschätzungen darüber, ob man eine Industrienation wie Deutschland zu 100% preisgünstig und zuverlässig aus Sonne und Wind mit elektrischer Energie versorgen kann, gehen weit auseinander. Demgegenüber ist es aufschlussreich, sich an einem vereinfachten Zahlenbeispiel die Möglichkeit einer hundertprozentigen Stromversorgung auf der Basis von Kernenergie anzuschauen.
Dazu betrachten wir ein fiktives Land namens Nuklearia, dessen Strombedarf im Durchschnitt 65 Gigawatt beträgt. Nachts liege der Bedarf an 12 Stunden bei 50 GW, tagsüber an 12 Stunden bei 80 GW. Sehen wir einmal vom deutschen Gänsebratenkoma zwischen Weihnachten und Neujahr ab, bildet die Nuklearia-Lastkurve in guter Näherung ein Industrieland von der Größe Deutschlands ab. Ein Blick auf die Energiecharts des Freiburger Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme kann das bestätigen. Wieviel würde eine bedarfsgerechte Vollversorgung von Nuklearia mit 100% Kernenergie kosten?
Nehmen wir für den Bau von 65 GW Kernkraftwerkskapazität einen Investitionsbedarf von 10.000 €/kW an. Dies ist die obere Kostengrenze aus dem MIT-Report “The Future of Nuclear Energy in a Carbon-Constrained World”. Dann ergibt sich ein finanzieller Aufwand von 650 Milliarden Euro. Der Kraftwerkspark hätte einen Platzbedarf von weniger als 65 Quadratkilometern. Dies entspricht 0,02 Prozent der Fläche der Bundesrepublik, also ein Hundertstel der vielzitierten 2% Windkraftfläche. Die Kraftwerke würden Nuklearia an 8.760 Stunden im Jahr mit einer gleichbleibenden Leistung von 65 GW versorgen, anstatt tags mit 80 GW und nachts mit 50 GW. Um Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen, bedarf es noch preiswerter Speicher.
Um die konstante Stromproduktion an den schwankenden Bedarf anzupassen, ließen sich Flüssigsalz-Wärmespeicher in den Kraftwerksblock integrieren, wie sie heute schon in großen Solarkraftwerken eingesetzt werden. Die Wärmespeicher würden während der nächtlichen Nachfrageflaute ungefähr eine halbe Terawattstunde an thermischer Energie speichern (angenommener Kraftwerkswirkungsgrad 30%). Tagsüber würde aus dieser Wärmereserve der Zusatzbedarf an Strom gedeckt. Die Investitionskosten für Flüssigsalzspeicher liegen bei 25 €/kWh. Selbst bei einer großzügig bemessenen Verdopplung dieser Kosten, würden die Investitionen für die Wärmespeicherung bei unter 25 Milliarden Euro liegen. Die Investitionskosten für Kernkraftwerke mit Wärmespeichern liegen mithin bei 675 Mrd. €. Die Brennstoffkosten sind bei Kernkraftwerken gegenüber den Investitionskosten vernachlässigbar. Bei einer zu Ungunsten des Kernkraftwerks geschätzten Nutzungsdauer von nur 30 Jahren (in Realität können es 60 Jahre sein), ergeben sich daraus jährliche Investitionskosten von knapp 23 Milliarden Euro pro Jahr – weniger als eine Jahresschreibe der deutschen EEG-Subventionen.
Mit der skizzierten Lösung wäre eine elektrische Vollversorgung von Nuklearia gewährleistet. „Verstopfungen“ wären nicht zu befürchten. Ein moderater Anteil an Solar- und Windenergie wäre problemlos integrierbar.
Mein Fazit: Bei der vermeintlichen „Verstopfung“ der Netze durch Kernenergie handelt es sich um einen klassischen Fall von Falschinformation. Dass sich acatech die subjektive Wortwahl „schlecht“ zu eigen macht, zeugt überdies von der Politisierung der Wissenschaftsakademien.
Der Autor: André D. Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“ Kontakt: energiewendemaerchen@t-online.de