CO2-neutrales Dresden: Klimarettung oder Geldverschwendung?
André D. Thess
29. Juli 2021
Bürgermeister, Rektoren und Unternehmer kündigen klimaneutrale Städte, Hochschulen und Waren an. Pflaumenmus aus Mühlhausen soll angeblich schon klimaneutral sein. Wie weit ist der Weg vom unbefleckten Brotaufstrich zum klimafreundlichen Elbflorenz? Wie kann er glaubwürdig gestaltet werden?
1. Klimaneutralität – Dichtung und Wahrheit
Beginnen wir mit dem Stand von heute: Jeder Deutsche stößt im Durchschnitt etwa zehn Tonnen Kohlendioxid pro Jahr aus. Das sind für Dresden fünf Millionen Tonnen. Diese Zahl soll bis 2050 auf Null sinken. Öffentliche Aussagen zu dieser Mammutaufgabe besitzen drei auffällige Merkmale.
Erstens werden Geldforderungen mit Vorliebe zu Lasten der Steuerzahler erhoben. Beim Wiederaufbau der Frauenkirche kamen mehr als einhundert Millionen Euro und mithin 56% der Kosten von privaten Spendern. Im Gegensatz dazu herrschte unter den 5.000 jungen Dresdner Klimademonstranten am 24. Mai 2019 zum Thema finanzieller Eigenbeitrag dröhnendes Schweigen. Sollte uns Klimaschutz nicht so viel eigenes Geld wert sein wie unser Kulturerbe oder das neueste Smartphone?
Zweitens lassen Klimaschutzkonzepte abrechenbare Ziele und öffentliche Prüfmöglichkeiten oft vermissen. So könnte ein neugieriger Bürger fragen, an welcher Zahl er wohl die Erreichung des Ziels „die Mitmachstadt – klimaschonendes Verhalten im Alltag fördern“ aus dem Dresdner Klimaschutzkonzept vom 24. April 2021 im Jahr der Abrechnung 2050 überprüfen darf. Wenn Dresden Vorreiter beim Klimaschutz sein will, sollten unsere Vorhaben dann nicht höchsten Qualitätsansprüchen genügen?
Drittens haben viele Bürger naive Vorstellungen über die Kosten wirksamen Klimaschutzes. Oft entsteht gar der Eindruck, Geld sei Nebensache. So kommt in dem Parteipapier „Dresden klimaneutral“ das Wort Euro kein einziges Mal vor. Der Weltklimarat IPCC taxiert wirksamen Klimaschutz mit Vermeidungskosten von mindestens einhundert Euro pro Tonne CO2. Für Dresden ergibt das über fünfhundert Millionen Euro oder drei Frauenkirchen pro Jahr. Die letzten Prozente zur Klimaneutralität sind noch weitaus teurer!
All dies wirft die Frage auf, ob sich Klimaschutz nicht nach ähnlich strengen Maßstäben richten sollte wie die Zulassung von Medikamenten oder Flugzeugen. Hierfür ist es erhellend, die Klimaneutralität von Wärme, Strom und Mobilität an Beispielen zu veranschaulichen. Aus deren Stärken und Schwächen lassen sich Qualitätsansprüche besonders gut herleiten.
2. Klimaneutrale Wärme
Wie funktioniert Klimaschutz im Wärmesektor? Die Stanford University hat im Projekt “Stanford Energy Systems Innovations” (SESI) ihr fossiles Heizkraftwerk abgerissen und die gesamte Wärme- sowie Kälteversorgung auf Solarenergie und Speicher umgestellt. Der Investitionsaufwand betrug 485 Millionen Dollar. Auf dem Campus arbeiten und leben etwa 30.000 Menschen. Hochgerechnet auf Dresden entspricht dies einer Investition von knapp sieben Milliarden Euro oder 37 Frauenkirchen oder 13.000 Euro pro Kopf.
An SESI sind wichtige Merkmale erfolgreichen Klimaschutzes ablesbar. Da Stanford eine Privatuniversität ist, stammt ein großer Teil der 485 Millionen Dollar aus privater Hand. Somit haben nicht amerikanische Steuerzahler, sondern Studenten, Philantropen und Unternehmer das Klimaschutzprojekt finanziert. Das abrechenbare Ziel „Sonne statt Gas und Öl“ ist für jedermann verständlich. Das Verschwinden des Heizkraftwerks lässt sich für jeden Smartphonebesitzer mit einem Klick auf Google-Maps überprüfen.
3. Klimaneutraler Strom
Wie funktioniert Klimaschutz im Stromsektor? El Hierro ist die kleinste kanarische Insel. Auf ihr leben knapp zehntausend Menschen – ungefähr wie im Stadtteil Blasewitz. Es gibt keine energiehungrigen Universitätskliniken; außerdem mehr Wind und Sonne als hierzulande. Insofern ist Klimaschutz auf den Kanaren leichter als in Sachsen. Der Strom wurde auf der Insel bis zum Jahr 2013 ausschließlich mittels Dieselgeneratoren erzeugt.
Für über 80 Millionen Euro wurden auf der Insel fünf Windturbinen und ein Pumpspeicherwerk errichtet. Hochgerechnet auf Dresden entspräche dies einer Investition von vier Milliarden Euro oder 22 Frauenkirchen oder 8.000 Euro pro Kopf. Anfangs hatten die Initiatoren verkündet, die Insel würde bald zur Ökostrom-Selbstversorgerin. Doch unter www.goronadelviento.es lässt sich ablesen, dass dies nur zur Hälfte der Fall ist. Die Dieselgeneratoren sind weiterhin in Betrieb.
El Hierro veranschaulicht typische Mängel von Ökostromprojekten. Die Bewohner haben kaum eigenes Geld eingesetzt, sondern die Kosten auf europäische Steuerzahler und spanische Stromkunden verlagert. Die Kommunalpolitiker haben vor Projektbeginn keine vollstreckbare Garantie für „100% Ökostrom“ abgegeben und sind somit von Verantwortung für das Verfehlen ihres Ziels frei. Das Projekt war nicht durch eine fachgerechte Kostenrechnung untermauert. Eine professionelle Analyse hätte ergeben, dass für 80 Millionen Euro keine Autarkie realisierbar ist.
4. Klimaneutrale Mobilität
Wie funktioniert Klimaschutz im Mobilitätssektor? Die CO2-Kompensation von Reisen erfreut sich bei Diskussionen über Klimaneutralität besonderer Beliebtheit. Es lohnt sich deshalb, einen Blick auf dieses Klimaschutzwerkzeug zu werfen.
Aktivisten fordern, Reisende mögen nach Erwerb von Flugtickets Geld an atmosfair oder myclimate zwecks Ausgleich der CO2-Emissionen bezahlen. Im Sommer 2019 wurden bei der Recherche zum Buch „Sieben Energiewendemärchen?“ sämtliche Energieprojekte deutscher Kompensationsanbieter analysiert. Für jedes wurde das Internet nach Messdaten durchforstet, um die eingesparte Menge an CO2 zu prüfen. Das Ergebnis war ernüchternd.
Für kein Projekt gelang es, die CO2-Einsparung aus öffentlichen Daten zu berechnen. Falls die nichtöffentlichen Einspeisedaten des Solarkraftwerks „India One“ stimmen, sind dessen CO2-Vermeidungskosten 30-mal so hoch wie die Richtwerte bei atmosfair. Somit wäre das Kompensationsversprechen nur zu drei Prozent erfüllt. Einzelheiten sind im zitierten Buch beschrieben.
Die CO2-Kompensation ist das Paradebeispiel für Pfusch am Klima. Bislang hat kein Klimaschützer aus dem öffentlichen Sektor die Bereitschaft verkündet, Dienstreisen aus eigener Tasche zu kompensieren. Weiterhin fehlt der Kompensation in ihrer heutigen Form jegliche öffentliche Prüfmöglichkeit. Und schließlich täuschen die niedrigen Kompensationspreise über die tatsächlichen Kosten wirksamen Klimaschutzes hinweg.
Statt Kompensations-Okkultismus zu fördern, könnten Klimaschützer in Zukunft überprüfbare Maßnahmen ergreifen – zum Beispiel klimaneutrale Treibstoffe tanken. Allerdings voraussichtlich für zwei bis drei Euro pro Liter. Für die 250.000 Dresdner Fahrzeuge würde dies jährlich eine halbe Milliarde Euro an Mehrkosten oder drei Frauenkirchen oder 1.000 Euro pro Einwohner ausmachen.
Welche Lehren lassen sich für wirksamen und kostengünstigen Klimaschutz in Dresden ableiten?
5. Klimaneutralität – vom Klimapfusch zum Weltniveau?
Glaubwürdiges Handeln beginnt nicht mit dem Ruf nach Steuergeld, sondern mit einem Eigenbeitrag. So ließe sich eine bürgerfinanzierte „Stiftung klimafreundliches Dresden“ gründen – ähnlich wie bei der Frauenkirche. Stiftungsbotschafter sollten nicht Funktionäre, sondern verdiente Bürger wie Ludwig Güttler bei der Frauenkirche sein. Wünschenswert wären auch integre Wissenschaftler. Statt am unbezahlbaren Traum vom klimaneutralen Dresden rumzumuddeln, sollte die Stiftung kleine aber feine Bürgervorhaben anstoßen. Wie wäre es mit einem energieautarken Schillergarten ohne Anschluss ans Stromnetz? Hierfür müssten in Elbnähe einige Tausend Quadratmeter Solaranlagen installiert werden – ein lehrreiches Anschauungsbeispiel für die Herausforderungen echter Klimaneutralität. Am Tag der Eröffnung könnte die Stiftungsbotschafterin das Kabel zum Energieversorger kappen – in wohltuendem Kontrast zum beliebten Taschenspielertrick namens „bilanzielle CO2-Neutralität“. Durch solche Projekte würde das bürgerschaftliche Engagement von der Frauenkirche auf den Umweltschutz ausstrahlen. Dann könnte Dresdens Klimapolitik vom heutigen Mittelmaß zur Weltspitze aufsteigen.
Eine geringfügig modifizierte Version des Textes ist im Mai 2021 in der Sächsischen Zeitung erschienen. Die genannten Zahlen gelten für Dresden, sind jedoch sinngemäß auf jede deutsche Großstadt übertragbar.
Der Autor: André D. Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“ Kontakt: energiewendemaerchen@t-online.de