Simulationsversagen? Gastbeitrag für TE

Warum Risiken und Nebenwirkungen computergestützter Politikberatung nicht verschwiegen werden dürfen

Simulationsversagen?

Warum Risiken und Nebenwirkungen computergestützter Politikberatung nicht verschwiegen werden dürfen

André D. Thess

18. Januar 2022

Das Jahr 1972 begann mit doppeltem Kanonendonner. Am 10. Januar veröffentlichten Steven Orszag und George Patterson im Fachjournal Physical Review Letters die erste Computersimulation einer turbulenten Strömung. Am 2. März präsentierte ein Club-of-Rome-Team um Dennis Meadows auf einer Pressekonferenz die Simulationsstudie The Limits to Growth – Grenzen des Wachstums.

Der erste Schuss war ein Volltreffer. Strömungssimulation ist heute Schlüsseltechnologie für den Flugzeug­entwurf. Dank aufwändiger Vergleiche mit hochpräzisen Windkanalexperimenten ermöglicht die Simulationssoftware Vorhersagen von Auftrieb und Strömungswiderstand mit Fehlern von weniger als einem Prozent. Die qualitätssichernden Vergleiche werden im Fachjargon als Validierung bezeichnet. Ein Computerprogramm gilt als validiert, wenn mindestens ein repräsentatives Rechenergebnis vollständig mit hochwertigen Messdaten aus einem Experiment übereinstimmt. Vollständig bedeutet in diesem Fall, dass nicht nur die beiden Zahlen Auftrieb und Strömungswiderstand aus Simulation und Experiment übereinstimmen müssen.  Die Validierung gilt nur als vollständig, wenn auf jedem Quadratmillimeter der Flugzeugoberfläche die simulierte Strömungsgeschwindigkeit mit der im Windkanalmodell gemessenen übereinstimmt. Die phänomenale Sicherheit der Luftfahrt ist auch ein Triumph validierter Computersimulationen. Ähnliches gilt für die Wettervorhersage für morgen, die sich übermorgen validieren lässt.

Der zweite Schuss war ein Rohrkrepierer. Grenzen des Wachstums war ohne jegliche innerwissenschaftliche Qualitätskontrolle – in Fachkreisen sagt man Peer-Review – erschienen. Die Software war nicht validiert. Drei von zwölf Simulationsläufen erwiesen sich später als falsch. Die von den Autoren formulierten computergestützten Politikempfehlungen – erzwungener Stopp des globalen Wirtschaftswachsums und weltweite rigide Geburtenkontrolle – waren weder mit damaligen demokratischen Grundrechten vereinbar, noch sind sie es mit den heutigen. Wäre die Menschheit dem Club of Rome gefolgt, wären hunderte Millionen Chinesen und Inder in Armut verblieben, der sie dank Globalisierung, Wirtschaftswachstum und eigenem Fleiß entkamen.

Fünfzig Jahre später stellen sich folgende Fragen: Welche Computersimulationen dürfen zur Politikberatung eingesetzt werden? Wie lässt sich der Vorhersagfehler angemessen kommunizieren? Wer haftet eigentlich bei Simulationsversagen? Bei Medikamenten hat die Gesellschaft auf analoge Fragen überzeugende Antworten gefunden. Das Medikament muss vor seinem Einsatz einen strengen Zulassungsprozess durchlaufen, analog zur Validierung von Simulationssoftware. Die Risiken und Nebenwirkungen werden auf dem Beipackzettel klar und offen kommuniziert. Der Hersteller haftet für sein Produkt – im schlimmsten Fall mit seinem wirtschaftlichen Untergang.  Die politikberatende beamtete Simulationszunft hüllt sich bei den gleichen Fragen hingegen  gern in Schweigen. Dabei wird die Dringlichkeit der drei Fragen am Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichts und an der Coronapolitik der Bundesregierung deutlich.

Das Klimaschutzurteil ruht unter anderem auf ökonomischen Simulationen, die für Klimaschutzmaßnahmen niedrigere Kosten vorhersagen als für Klima­anpassungsmaßnahmen. Doch während physikalische Klimamodelle teilweise validiert sind,  fehlt ökonomischen Prognosemodellen für die Energiewendekosten sowohl eine Validierung als auch eine fachgerechte Bewertung der finanziellen Risiken. Um sich diesen harmlos klingenden Fachbegriff zu veranschaulichen, denke man an Elbphilharmonie, Berliner Flughafen und Stuttgart 21 oder an die berühmte Eiskugel. Obwohl für Kostenexplosionen bei „Megaprojekten“ (Bent Flyvbjerg) inzwischen umfassendes statistisches Datenmaterial vorliegt, wird dieses als Validierungsmöglichkeit für klimaökonomische Simulationen von der Community allem Anschein nach flächendeckend ignoriert. Das Klimaurteil beruht somit auf Kostenprognosen ohne Validierung. Wer trägt die Verantwortung, falls sich Grundrechts­einschränkungen wegen Simulationsversagen als ungerechtfertigt erweisen?

Die Coronamaßnahmen der Bundesregierung wurden unter anderem durch eine Serie von Ad-hoc-Stellungnahmen der Leopoldina begründet. Stellungnahme 2 verweist auf eine Simulationsstudie von Maier und Brockmann. In dieser Studie taucht der Fachbegriff „Validation“ kein einziges Mal auf. Keines der auf Seite 2 der Stellungnahme 2 dargestellten Simulationsergebnisse hat sich rückblickend als korrekt erwiesen. Somit haben Simulationen ohne Validierung einen Anteil an den coronabedingten Freiheitsbeschränkungen.

Vor diesem Hintergrund bin ich der Meinung, dass die Vertrauenswürdigkeit von Computersimulationen als Basis für Politikberatung analog zum Rating von Staatsanleihen in drei Klassen eingeteilt werden sollte. Vollständig validierte Simulationen bilden die Klasse A. Hierzu gehören Aerodynamiksimulationen von Flugzeugen, virtuelle Crashtests von Autos oder Kurzzeitwettervorhersagen. Teilweise validierte Simulationen bilden die Klasse B. Hierzu gehörten Klimamodelle, die sich auf physikalisch-chemische Größen wie Temperatur, Windgeschwindigkeit und Luftfeuchtigkeit beschränken und keine Vorhersagen für ökonomische Variable berechnen. Nicht validierte Simulationen bilden die Klasse C. Zu ihr gehören die Prognosen von Energiewendekosten, Aktienmärkten und Fußballergebnissen. Bei der Politikberatung ist die Klassenzugehörigkeit des jeweiligen Modells öffentlich zu kommunizieren. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen dürfen – wenn überhaupt – nur durch Simulationen der Güteklasse A begründet werden.

Während Flugzeughersteller für Abstürze und Pharmakonzerne für Medikamentenschäden haften, dürfen Meadows und Koautoren die undifferenzierten Lobpreisungen ihres numerischen Fehlschlages auf Wikipedia genießen. Dies sollte sich meines Erachtens dringend ändern. Wissenschaftler sollten nur solche computergestützten Empfehlungen an Politiker aussprechen, für deren Richtigkeit sie – zumindest theoretisch – den Verlust von Professorentitel, Privatvermögen und Beamtenpension als Unterpfand zu geben bereit sind. Dann würde Politikberatung so viel Mut
und Tapferkeit erfordern, wie die Free-Solo-Kletterei von Alex Honnold.

Der Autor: André D. Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“

Eine modifizierte Version des Artikels ist in der Ausgabe 2/2022 des Monatsmagazins Tichys Einblick erschienen.

 

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